Weg zum Hermes - Ein Plädoyer für den gesenkten Blick
Studienarbeit von Teresa Weißert
Beim Laufen auf natürlichem Terrain lohnt es sich immer, zumindest mit einem Auge, auf den Boden zu achten. Wurzeln, Hügel, Kuhlen und Pfützen sorgen für stete Abwechslung und Stolpergefahr. Selbst auf einer gleichmäßig bewachsenen Wiese kann man nie sicher sein, was der nächste Schritt bringt. Aber wie bewegt sich der Mensch in kultivierter Umgebung der asphaltierten, gepflasterten und gekiesten Wege? Höhenunterschiede, markiert durch Bordsteine, dienen hier der Unterscheidung zwischen Straße und Fußgängerweg. Gehkomfort ohne Überraschungen: eine Voraussetzung. So ist dem Moment, da dieser Gehkomfort gebrochen wird, durch Risse im Asphalt, fehlende Steine im Pflaster oder gar offene Gullis, Empörung gewiss oder zumindest der Verdacht sich in einer verwahrlosten Umgebung zu befinden. Doch auch auf scheinbar intakten Straßen und Gehwegen fällt der aufmerksamen Betrachterin auf: Die Mannigfaltigkeit der Straßenbeläge einer Stadt gleicht der sich wandelnden Flora eines ausgedehnten Spazierganges durch Wiesen und Wälder. Ohne ersichtlichen Grund wechseln die Steine Farbe, Form und Muster und lassen Spekulationen über Alter und Nutzung der Straßenabschnitte zu. Gleichzeitig scheint diese Vielfalt ein selten betontes Phänomen zu sein. Erst nach erfolgter Sensibilisierung richtet sich der Blick gezielt zu Boden und staunt über die Vielfältigkeit dieser pragmatischsten Konstante des täglichen Bewegens durch die Stadt.
Serie: PLÄDOYER FÜR DEN GESENKTEN BLICK / Gobelin Serie / Wolle / 70 x 120 cm / 2020
WEG ZUM HERMES / Gobelin / Wolle / 120x300cm / 2020
Die textile Arbeit „Weg zum Hermes“ ist das Wiedererleben und Wiedergeben eines alltäglichen Weges vom eigenen Zuhause hin zum Atelier, dem Arbeitsplatz der Künstlerin. In regelmäßigen, Abständen habe ich den Boden zu meinen Füßen fotografiert. Die enstandenen 256 Fotografien dienen als Grundlage des Teppichs, auf dem ein Foto nach dem Anderen weberisch umgesetzt wird. Es entsteht eine Wegbeschreibung der wecheselnden Pflasterungen. Neben dem Beobachten des Patchworkcharakters der Hallenser Straßen und Fußgängerwege spielt auch der Charakter von Wegen als solche eine Rolle. Der Prozess des Webens, der nicht anders als Schritt für Schritt, Bewegung für Bewegung ausgeführt werden kann, ist auch immer als eine Bewegung hin zum fertigen Textil, also auf ein antizipiertes Ziel zu, zu denken. Die Langsamkeit, mit der ein räumlich kurzer Weg webend nachempfunden wird, wirft Fragen über die Wahrnehmung alltäglicher Routinen und Abläufe auf, sowie über das fluide Verhältnis von Raum und Zeit.