Foto: Mirjam Schaub
Exkursion nach VENEDIG
im September 2019
Konzept und Exkursionsleitung:
Prof. Dr. Mirjam Schaub
Mitreisende: Leonard Siegl, B.A.
Auf diesem Gemälde von Pietro Longhi (1751), Exhibition of a Rhinozeros, wird die venezianische bautà getragen
28. September bis 5. Oktober 2019
Das Soziale in der Kunst - Soziale Kommunikation, Menschenbild und Maskerade, ein Streifzug durch die venezianische Kulturgeschichte sowie die Biennale
TeilnehmerInnen: 12 Studierende und Meisterschüler_innen aus den Fachrichtungen Buchkunst, Zeitbasierte Künste, Schmuck, Malerei/Textil, BROG sowie Kunst auf Lehramt des Fachbereichs Kunst, sowie 3 des Fachbereichs Design (Kommunikationsdesign). (Zwei der ursprünglich 17 Teilnehmerinnen mussten kurzfristig wg. Krankheit absagen.)
Vorbereitung: Blockseminar 29./30. Juni 2019 in Berlin zum diesjährigen Programm der Biennale und zur politischen Philosophie der venezianischen Gesellschaft. Mit Hilfe von Kurzreferaten wollen wir uns einen ersten Überblick über ausgewählte Künstlerinnen und Künstlerinnen verschaffen, uns daneben das Maskenwesen und die besondere Verfassung der venezianischen Gesellschaft anhand historischer Texte erschließen. Die Studierenden bereiten außerdem in Arbeitsgruppen ihre Referate vor, die später vor Ort gehalten werden. In Berlin gemeinsamer Besuch der Bellini/Mantenga-Ausstellung im Kulturforum, wo u.a. das feinsinnige Portrait des Doge Loredan von Bellini zu sehen ist.
Nachbereitung: Ausführliche Abschlussdiskussion der Seminarerfahrung und der Stadteindrücke, Verschriftlichung der Referate, gemeinsame Fotodokumentation.
Exkursionsbericht:
Historisches Venedig
Die diesjährige Exkursion nach Venedig sowie zur Biennale di Venezia begann für 15 Studierende aus Kunst und Design mit einem Stadtspaziergang zusammen mit der ortsansässigen Kuratorin Agnes Kohlmeyer vor der Chiesa di San Polo mit ihren cinemaesken Tiepolo-Fresken. In der nahgelegenen Frari-Kirche fehlte zwar restaurationsbedingt Titizans Himmelfahrt der Maria, dafür leuchtete Bellinis wunderbar plastische Madonna mit Kind um so inniger aus der Kapelle. Das übergreifende Exkursionsthema des „Sozialen in der Kunst“ wurde sodann am Campo San Patalon das erste Mal greifbar: Hier hat sich pünktlich zum Biennale-Start Banksy an einem maroden Palazzo mit einem fackeltragenden Mädchen verewigt; worauf die Immobilienfirma Engel & Völkers das Gebäude sogleich als „Banksy Estate“ für sich reklamierte und den Preis „auf Anfrage“ setzte.
Zwei Tage widmete sich die Exkursion dem „alten“ Venedig und seinen einzigartigen Institutionen: Wir besuchten die Galleria dell’Accademia zusammen mit der kundigen Stadtführerin Elisabeth Maraite und vertieften uns dort in die zyklischen Arbeiten von Vittorio Carpaccio, in denen die venezianische Gesellschaft auch dann portraitiert wird, wenn die Hl. Ursula das vordergründige Thema ist. (Die Studierenden erfuhren nebenbei Wissenswertes über typisch venezianische Vorspeisen und Aperitivi.) Nach dem Besuch eines Maskenladens, erschlossen sich die Maskenbräuche Venedigs, die ja in Gestalt der bautà (larva/maschera nobile) über den Karneval und die commedia dell’arte hinausgehen, sehr gut im Ca‘Rezzonico mit seinen Cannalettos, Guardis, Longhis. Die bautà selbst diente mit der ersten funktionalen Anonymisierung statt Typisierung, nicht nur der Geheimhaltung, sondern auch dem sozialen Ausgleich; das Überleben der Republik hing auch davon ab, wie es gelingen konnte, in einem Spitzelstaat dennoch ein lebenswertes und erstaunlich libertinäres Leben führen zu können.
Im Museo Correr beeindruckten neben den üppigen Globen und Seekarten besonders der gigantische Holzschnitt von Jacopo dei barbari aus dem Jahr 1500, der Venedig als fantastisch detailliertes Gebilde aus der Luft zeigt; eine aus der Sicht von 14 Kirchtürmen hochgerechnete, auch mathematische Meisterleistung; passend dazu bestiegen wir abends den Glockenturm auf San Giorgio Maggiore, von dem aus man zum Sonnenuntergang den besten Blick auf den gegenüberliegenden Dogenpalast hat. Dessen Besuch führte neben den repräsentativen Gemächern in die sog. Geheimgänge, ins winzige Büro des um so mächtigeren Kanzlers, in die Verließe und Bleikammern, denen Casanova am 31. Oktober 1756 spektakulär entfloh, wenn man seinem späteren Selbstzeugnis Glauben schenken kann... Immerhin verzeichnen auch die für ihre Akribie bekannten Annalen der Stadt Kosten für Reparaturarbeiten just an denen Stellen, die als Fluchtweg in Betracht kommen.
Im Dogenpalast interessierte uns das architektonisch greifbar werdende „Double-Bind“ der venezianischen Republik, welche Einschluss und Ausschluss, Öffentlichkeit und Geheimniskrämerei in größter räumlicher Nähe als zusammengehörige Einheit praktizierte. So wünschte man die größtmögliche Partizipation der Adeligen und baute deshalb die säulenlosen, 54 Meter lange Sala del Maggior Consiglio. Zugleich versteckte sich hinter den Wandvertäfelungen der eigene Spitzelstaat; wobei sich das Misstrauen bemerkenswerter Weise gegen sich und die eigene Klasse, nicht gegen andere Schichten richtete, so dass soziale Spannungen in der dafür im übrigen viel zu engen Stadt ausblieben; auch, weil die Republik auf öffentlichen Personenkult verzichtete; stattdessen aber allen Schichten ähnliche Gebräuche erlaubte und die Zugehörigkeit zum Dogenpalast als Symbol der Republik durch die Imitation seiner charakteristischen Maßwerkfenster (mit dem ausgesparten Kleeblattkreuz) sicherte.
Die Biennale
Dass Venedig heute nur überleben kann, wenn es die Brücke von den Glanzzeiten der Republik in die Gegenwart schlägt, beweist eindrücklich die Einrichtung der Kunstbiennale selbst. Peggy Guggenheim belebte das neue Ausstellungsformat für moderne Kunst nachhaltig mit ihrer eigenen Sammlung, die sie nach dem 2. Weltkrieg dort präsentierte. So begann unsere eigene Annäherung an die diesjährige Biennale im Peggy Guggenheim Museum, fußläufig zur seit Jahren bewährten Unterkunft in der Locanda Montin. Die Studierenden setzen sich in ihren Referaten kritisch mit der Ausstellungsgeschichte, gerade auch der des Dt. Pavillons, auseinander. Gemeinsam besuchten wir anschließend den Pavillon, deren verschachtelten Sinnangebote – neben einem symbolisch leckenden Staudamm und gestapelten Erntekörben (mit grausigem Hintergrund) – auch ein Konzert aus Kompositionen für Trillerpfeife boten; Pfeifen, die von Menschen auf der Flucht und illegalen Arbeitsmigranten u.a. in Süditalien bei der Tomatenernte als Warnsignal untereinander benutzt werden. Der koreanische Pavillon mit dem sprechenden Titel „History has failed us, but no matter“, mit Videoarbeiten drei Künstlerinnen (u.a. Jane Jin Kaisen), wurde uns durch ein Referat in eindrücklicher Weise bekannt gemacht. Die Studierenden folgten in den Giardini ansonsten ihren eigenen Wegen und Interessen; nachmittags trafen wir uns wieder, um unsere Erfahrungen und Empfehlungen auszutauschen.
Einer der Höhepunkte war am folgenden Morgen der Besuch des Littauischen Pavillons im militärischen Teil der Arsenale. Dank einer ‚Avantgarde’ von drei Frühaufstehern, ergatterten wir einen guten Platz in der später schier endlos werdenden Schlange und kamen pünktlich um 10 mit dem ersten Schwung hinein. Dass hier drei Künstlerinnen – versiert in Bühnenbild, Komposition und Dramaturgie – die zerstörerischen Folgen des Tourismus für Venedig von professionellen Sängern besingen lassen, manchmal echauffiert, manchmal süß, traurig und betörend, wie Sirenen, gehörte für alle wohl zu den berührendsten Momenten der diesjährigen Biennale. Mehr Zeitgenossenschaft ist selten. Zwei Studierende der BURG und eine ehemalige Studentin wurden beim Rausgehen vom Ausstellungspersonal angesprochen, ob sie nicht mitmachen wollten. Sie wollten und schickten uns dieses Photo (siehe unten, Bild Nr. 9: Margarita Wenzel mit Victor Petrov und Cara Venzke).
Der Mittag stand im Zeichen der Arsenale, die sich alle individuell erschlossen, z.B. die von David Adjaye gestalteten Räume Ghanas (die dann u.a. von John Akomfrah mit neu collagiertem BBC-Material bespielt wurden), bevor wir uns schwerpunktmäßig und durch Referate unterstützt, so unterschiedlichen künstlerischen Positionen wie denen von Rosemarie Trockel, Tomás Saraceno und Christoph Büchel mit „Barca Nostra“ näherten. Das am 18. April 2015 bei einem Rettungsversuch im Mittelmeer gesunkene Schiff sorgte bereits im Vorfeld für Kontroversen und Unverständnis, da es für rund 1.000 Menschen auf der Flucht zu einer tödlichen Falle, zu einem Sarg wurde. Nur 28 Menschen überlebten das Unglück. Was wird daraus nun im Kontext einer Kunstausstellung? Verharmlost nicht der leere Stahlrumpf das Geschehen, indem er es zwangsläufig auch auf eine ästhetische Ebene hebt? Büchel verzichtet auf die Signatur des Schiffes und auf jeden Kommentar. Er stellt es in der alten Schiffswerft am Wasser und vor einem Café ab als Frage, was es sei. Man kann dieses Schiff für eines wie jedes andere halten, verdutzt stehenbleiben, wegsehen, es übersehen. Dabei erzählt der irregulär zerborstene und später in der Mitte quadratisch ausgefräste Schiffsrumpf die unbequeme Wahrheit, ihre traurige und ihre tröstende Seite: Er zeigt nicht nur Spuren der Kollision mit einem größeren Schiff, das zur Rettung herbeieilte und dabei das überladene Fischerboot versehentlich so heftig rampte, dass es sank; sondern auch die herausgeschnittenen Bootswände, ein Versuch, die vielen Toten zu bergen und wenigstens halbwegs würdig zu bestatten. Man sieht durch den geöffneten Schiffsrumpf nun wieder auf das Wasser, das ungerührt von alledem kommt und geht; und um so eindrücklicher auf die Verantwortung des Menschen verweist, sich um das Meer, das die alten Römer, „Unser Meer“ nannten, zu kümmern in jeder nur möglichen Hinsicht: Das Soziale in der Kunst kehrte hier neu zurück, nämlich als Frage nach der Hoffnung auf ein würdiges Leben und Sterben.
Der nächste Tag stand den Studierenden zur freien Verfügung, um die über die Stadt verteilten Pavillons zu besuchen, in die Giardini oder zu den Arsenalen zurückzukehren oder eine der nahgelegenen Inseln, z.B. das armenische Kloster auf S. Lazzaro mit seiner phantastischen Bibliothek und seiner Mumie zu besuchen. Diese Verschnaufpause nach Tagen dichten Programms schien nötig, um die „Batterien“ wieder aufzuladen. Um 17:30 traf sich deshalb nur ein kleines Grüppchen mit Prof. Dr. Riccardo Caldura in der Kunstakademie, um die Räumlichkeiten und Studienbedingungen näher kennenzulernen. Der Kontakt zu dem Professor für die Phänomenologie der zeitgenössischen Kunst besteht schon seit 2017 und ist ausbaufähig.
Der Ausklang
Am Freitag trafen sich die Studierenden morgens zu einer Führung durch die einst geheimen Synagogen des jüdischen Ghettos, das seinen Namen der venezianischen Aussprache des alten Gießereiviertels verdankt, das aus Sicherheitsgründen von Wasser umringt war, um die Gefahr durch überspringende Brandherde durch die Hitze der Bronzeschmelze zu mildern. Die Ansiedlung der jüdischen Bevölkerung im 16. Jahrhundert war für die Blüte des prosperierenden venezianischen Mittelmeerhandels mitverantwortlich. Dieser Teil der venezianischen Stadtgeschichte zeigt, wie das Bewahren des eigenen kulturellen Erbes trotz Ausgrenzung und Verfolgung gelingen kann; denn die Häuser verzichteten auf Schmuck und sehen von Außen wie normale Mehrfamilienhäuser aus, nur die Fünfzahl der Fenster gibt einen kleinen Hinweis auf die versteckte Besonderheit.
Nach einem Mittagessen in Cannaregio schlossen wir mit einem Referat in der wunderschönen Santa Maria dei Miracoli unsere mannigfaltigen Kirchenbesuche ab und trafen Agnes Kohlmeyer zu einem abschließenden Stadtrundgang wieder, der uns über die medizinhistorische Sammlung im 1. Stock der heutigen Ospedale (der alten Scuola di San Marco, der größten Laienbruderschaft für Nicht-Adelige in der Stadt) und die versteckten Kreuzgänge (ein Paradies für Katzen!) schließlich in ein altes Kino führte. Das Teatro Italia beherbergt seit einigen Jahren einen Supermarkt (Despar); und ist für Kunstaktionen aufgeschlossen; für die sich die alte Loge anbietet.
Die Erforschung der sozialen Kommunikation, das Augenmerk auf Menschenbild und Maskerade richtend, wurde mit Kenneth Goldschmith aufgerundet, der im Teatro Italia die von Donald Trump vindizierten e-mails Hillary Clintons (als Außenministerin, 2009-2012) ausstellt, die sie von ihrem privaten Account in dienstlicher Absicht erhielt oder versendete; eine Nachlässigkeit, die ihr (angeblich) viele Stimmen beim Wahlkampf kosteten. Sie selbst kam wenige Tage vor uns zu Besuch, um sich an den Nachbau des Präsidenten-schreibtischs aus dem Oval Office zu setzen und zu lesen. Sie sei bester Laune gewesen, heißt es. Wir waren es auch!
Szenen aus Venedig:
Foto: Mirjam Schaub
Foto: Mirjam Schaub
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