RESPIRER – EXPIRER. EIN REISEBERICHT IN 4 KAPITELN
von Marie Newid
4 Füße auf Asphalt, vorbei am Jägerstand in nassem Gras, über die Absperrung zur Autobahnraststätte. Die Zeit liegt vor uns. Wir stehen am Anfang. Und an der Straße. Welche Rolle spielt der Zaun? Erst mal keine. Die Möglichkeiten liegen zwischen vielfältig und unvorstellbar.
Reaktion. Zwei Daumen raus auf die Straße, Anne als Rückenstärkung hinter mir. Ich muss mich nicht umdrehen um zu wissen, dass sie lacht. Die Autos fahren vorbei, wir strahlen, fast wie von allein. Einige zucken mit den Schultern, manche schütteln den Kopf, andere grinsen. Über diese Reaktionen muss ich richtig lachen, das überträgt sich auf die folgenden Autofahrer, die an uns vorbei fahren. Der Drang nach dem Ungewissen, dem Weiterkommen und unsere Freude an der Herausforderung, sind nicht zu verbergen. Diese Freude wird unmittelbar aufgegriffen, übertragen. Ein Geben und Nehmen in rasantem Tempo. Mit den zunehmend austrocknenden Lippen wird das Lachen schwieriger. Risse entstehen. Gelacht wird trotzdem. Ein bisschen schief aber. Es ist deutlich zu spüren, dass der ganze Körper reagiert. Er passt sich an, stellt sich auf immer neue Menschen und neue Umgebungen ein. Im Dauerlauf; mit wenigen Verschnaufpausen. Wie Verhalten sich die Menschen nachdem sie unser Anliegen gehört haben? Alle, die wir damit konfrontieren, werden auf irgendeine Weise reagieren müssen. Einatmen – ausatmen. Aktion – Reaktion. Und immer weiter nach Süden. Die Rapsfelder blühen schon.
Vertrauen. Traust du dich? Traust du mir? Zählen in Autostunden, Gesprächsverläufen, persönlichen Geschichten und der Erholsamkeit des Schlafs. Welche Währung zählt? Eine Autofahrt für ein Gespräch und ein Stück Käse dazu. Ein Schlafplatz für Nichts. Selbstverständlichkeit im Geben. Ein Vertrauen darin, dass die mit der Gabe bedachte Person diese weitergibt. Wenn auch nicht in der Unmittelbarkeit der Sache, doch in der Bewahrung der Geste. Damit bekommen wir Verantwortung übergeben.
Wenn wir wollen, können wir uns abschotten, Türen schließen, Zäune hochziehen, Kühlschrankfächer einteilen und im eigenen Auto nichts essen, damit wir keine Fettflecken machen, wodurch sich der Wert verringern würde – für den Fall eines Weiterverkaufs. Wir können uns absichern, versichern, auf Sicherheit setzen und stets gut netzwerken – für Später. Risiken minimieren, einen Teil für uns allein zurückhalten, Eigentum beanspruchen, Besitz horten, daran festhalten, verwalten, abschalten. Goldfische halten. Totale Kontrolle vs. Vertrauen. Vertrauen in sich, in die Mitmenschen, in einen größeren Sinnzusammenhang. Ohne Vertrauen also keine Gabe?
Maintenant. Was ist der nächste Schritt? Wir in Aktion, wachsam, den Schwerpunkt nach vorne verlagert und jederzeit bereit für den Sprung. Nach Gerade kommt Jetzt. Präsent. Ganz im Moment. Im Alltag bedarf es viel Konzentration und des passenden Umfelds, um nicht gedanklich in Vergangenes oder Zuküntiges abzuschweifen. In der Ausnahmesituation unserer Reise melden sich plötzlich Grundbedürfnisse, drängen sich in den Vordergrund. Um diese zu stillen tritt ein Automatismus in Kraft, der allen Raum einnimmt. Die Zukunft ist ungewiss, verheißungsvoll und in versetzt in Spannung. Da man aber nicht weiß, was passieren wird, kann man sich nicht darauf einstellen. Daraus generiert sich eine enorme Freiheit. Stein für Stein für Stein für Stein. Angekommen in Maisod. Die Eule schreit, Gundermann verbreitet ein Gefühl von Taubheit im Rachen, das Wasser schnürt mir die Luft ab, lebendig im künstlichen Stausee mit halbem Wasserstand. In der Badewanne saugen sich kleine Krebse die Wand entlang, adroit - agauche ist dem links rechts überlegen und nach dem Hin-und Herwenden des Zusammenhangs zwischen rechter Hand und Narbe war vielleicht gerade dort das Links. Eine neue Sprache eröffnet neue Bilder, bildet andere Verknüpfungen. Blätterdach im Wald wie eine Höhle und ein zu Hause, aber das funktioniert nur, wenn es davor nicht geregnet hat. Unser Schneckenhaus bleibt dicht. Esel haben den Drang, sich im Feuer zu wälzen, weshalb man einen Zaun aufstellen muss. Tagsüber und auch danach krabbeln die Zecken den Grashalm hinauf und beißen sich in die samtige Eselsschnauze. Um 10 Uhr steht die Sonne so, dass sie direkt ins Gesicht scheint. Kein Tag ohne Bärlauch. Und beim Gedanken an frische Kuhmilch wird mir schlecht.
Bruno. Das Fenster des Bauernhauses öffnet sich und zögerlich schaut ein Mann heraus. Vielleicht will er lieber allein gelassen werden. Er bekommt sofort die ganze Portion aller Details: Wir essen auch Kartoffeln. Daraufhin kündigt er an, er müsse sich zurück ziehen. Wir warten, stehen auf diesem fremden Hof wie Eindringlinge. Bruno kommt herunter und wir setzen uns aufs Gras, lernen uns kennen. Daraus entsteht eine Freundschaft, ein sensibler Mann kommt zum Vorschein. Jemand, der viel allein zu sein scheint. Er zeigt uns sein Reich zwischen Kuhweiden und dem sich schlängelnden Lac du Vouglan. Wir lernen uns immer besser kennen. Am Ende strahlt Bruno, wir haben viel Zeit gemeinsam verbracht. Er hat sich auf uns eingelassen, wir durften seine Gäste sein und bei der Arbeit unterstützen. Eine Begegnung, die ganz ehrlich von statten geht. Jeder kann so sein, wie er ist. Konventionelle Formen der Höflichkeit haben sich erst gar nicht etabliert. Keine falsche Scheu oder Zurückhaltung. Anerkennen, was gegeben wird. Und mit Freude annehmen.
Welche Rolle spielt der Zaun? Der Gartenzaun vom ersten Tag in Sachsen-Anhalt ist am letzten Tag in Maisod wiedergekehrt. Wie ein Geschenk. Er ist in seiner Form aufgebrochen und weist in ganz viele Richtungen, in die es zukünftig gehen kann. Er wurde durchlässig. Da wir auf einmal das Geld entbehren mussten, das uns eine vermeintliche Freiheit sowie Handlungsspielraum verschafft, verschwanden die Begrenzungen. Die Distanz, mit der man für üblich fremden Menschen begegnet, verringerte sich auf ein Minimum.
Unterwegs ins Feld der Gabe: Wie wir werden, was wir sind im Austauschverfahren. | Ein offenes Reiseprojekt
4.-14-April 2017, von Halle/Saale nach Maisod, Frankreich. Unser Ver-fahren ist eine Reise ohne Geld und feste Organisation. Wir folgen unseren Fähigkeiten zur Improvisation, der Weg ist das Ziel.
Unterwegs ins Feld der Gabe: Wie wir werden, was wir sind im Austauschverfahren. | Ein offenes Reiseprojekt
4.-14-April 2017, von Halle/Saale nach Maisod, Frankreich.
Unser Ver-fahren ist eine Reise ohne Geld und feste Organisation. Wir folgen unseren Fähigkeiten zur Improvisation, der Weg ist das Ziel. Wir finden heraus, wie wir uns mit künstlerischer Intelligenz und künstlerischem Handeln nicht nur Schlafplatz und Verpflegung, sondern auch dialogische und ungeplante Herausforderungen erarbeiten im realen Reise-Prozess der Kunst, der kreativ und kommunikativ passiert.
Nach dem Reisestart - der Kunst des Improvisierens und Erkennens von Anerkennungspraxis unterwegs - soll in der Seminarfolge des Projekts nach seiner Modellhaftigkeit zum Erwerb von Selbstvertrauen in der prozessualen Kunstpraxis gefragt werden, die aus dem Atelier in die Lebenswelt führt und die Struktur der Gabe und das Vermögen des Zufalls / Kairos untersucht.
Eine Reise im Sommersemester 2017 | im Studiengang Kunstpädagogik / Kunst (Lehramt)
mit Anne-Lena Fuchs, Timm Höller, Laura Meltke, Marie Newid, Laura Neynaber, Sophia Roggenkamp, Karl-Konrad Wetzel
Lehrende: Prof. Una Moehrke, Luise von Rohden (Assistenz)
OHNE GELÄNDER – WIE WIR WERDEN, WAS WIR SIND
von Laura Neynaber
Wie es zur Reise kam. Aus einem langen Kampf der Angst, der Liebe zur Kontrolle, zum Rhythmus, zur Sicherheit, aus langem Abwägen mit Vernünftigem und nicht-Machbarem, mit Pflichtbewusstsein und dem Abgeben von Verantwortung um das Wichtigste, gebar sich der erste Augenblick, den man mit Kairos betiteln könnte. Zufälle der Begegnung, des Aufgefangenwerdens im Optimismus und der Unternehmungslust eines anderen Menschen. Die erste Gabe dieser Reise: Mut (zum nicht Denkbaren.) Bedingung: Angst vor Leere der nicht gemachten Erfahrung. Das Bewusstsein über die eigene Angst vor dem Unbekannten. Überwindung allen Gefühls, das Sicherheit schenkt.
4.4. Die Hand vom Geländer nehmen. Schon gegeben wurde uns mit einem Lächeln, einem erhobenen Daumen aus dem Auto, durch die Windschutzscheibe, direkt an unseren Unternehmungswillen gerichtet. Gute Gespräche bereicherten jede Fahrt. Zuerst über das Landleben und dann über Erziehung und das „Wie“ und „Wohin“, das sich damit auftat. „Danke für´s Mitnehmen“ „Ja, das war gut, so war die Fahrt nicht so langweilig!“ Heidelberg hat bezaubert und uns gegen Blumen, gute Laune und Geschichten ein Dach über dem Kopf im Rahmen der Familie geboten.
5.4. Sich einlassen müssen auf alles und nichts. Von nun an begleitete uns ein Zitat von Hilde Domin, das auch Teil unserer kleinen Gaben werden sollte. Nicht müde werden / Nicht müde werden / Sondern dem Wunder leise wie einem Vogel die Hand hinhalten. „So wie früher!“; Ihre Begeisterung stieß sie beinahe vom Fahrrad. „Jesus lebt“, eine berührende Mitfahrt zum Sinn des Lebens und wie man sich im Menschen irren kann, einem Spontankaffee in Karlsruhe, eine Fährenfahrt und Bierchen in der „Heimat“ zu Konstanz, zum Ausklang des Abends Vinyl vom Feinsten und zum Einschlafen Bob Dylan.
6.4. Über Grenzen gehen. Mit Feingefühl und den letzten Schokokeksen wurde um Kaffee gefeilscht und der Gastgeber aus der Reserve gelockt, bis er uns Butterbrote zum Abschied schmierte. Nach einem Rheinspaziergang bis zur „Côte d´Azur“, fanden wir einen Falkner, der schon mal nach Bagdad getrampt war und uns trotz dessen, dass „es sich nicht schickt in der Schweiz fremde Menschen ins Haus zu bitten“ zu Kaffee und Nussgipferls in seinen Garten einlud. Eine Mitfahrt mit zwei entspannten Syrern und einem unsympathischen Verkäufer folgten, bis wir in Basel, müde und hungrig, über alle Regeln hinweg zwei junge Damen um Obhut baten. Der Strauß an Blumen konnte niemals die Größe der Freude erreichen, die sich einstellte, als Nudeln und Wein sowie ein Bett angeboten wurden. Kaum erträglich waren das frische Brot und der Saft zum Frühstück, die es anzunehmen galt, weil sie nicht zu erwidern waren.
7.4. Zwischen den Welten. Eine beengende Erfahrung im Goetheanum, eine belebende Mitfahrt auf Spanisch, ein Opernbesuch mit Gepäck anstatt mit Abendgarderobe und ein Zelt mitten auf einem Grünstreifen in Basel. Stellt sich die Frage: Was geben WIR überhaupt? Kann man alles materialistisch erfassen? Ist die Gabe eine Illusion?
8.4. Wechselspiel. Lange Fußmärsche, Kaffee und Croissant vom eigenen Geld, 8 Mitfahrten nach Pont du Navoy. Die ersten Geburten französisch anmutender Worte. Ein Kletterangebot, ein Panzerfahrer als Touriguide, ein Mann, der jeden Tag Bierfest feiert und uns statt 10 gleich 40 km gefahren hat und ein Zelt am Flyfishinghotspot ohne Bier, dafür mit Ruhe.
9.4. Jeder für sich und verwoben im Ganzen. Frost im Zelt mit Kaffee am Morgen von jemandem, der Flyfishing betreibt und doch Fotograf werden möchte. Ankunft 11:50 in Maisod; Die Wiedervereinigung bahnte der eigenen Erschöpfung den Weg. Rücksicht und Feingefühl untereinander - ein Netz in das jeder sich fallen lassen kann. Camping auf der Eselsweide.
10.4/11.4./12.4. Wenig wird viel geteilt. Feuer am Abend, ein Bad unter Gewitterwolken, der Geruch von vollen Kuheutern am Morgen mit frischer Milch und einem halben Croissant, Lesestunde unterm Tarp im Regen, Steinwettwerfen, Abendessen mit Bruno, vertraut sein allein durch Offenheit. Ohne Rückzugsmöglichkeit darauf vertrauen, dass es nicht regnet, es etwas zu Essen geben wird, wir den Aufgaben gerecht werden und nicht die Flucht ergreifen. Vertrauen in das Unbekannte als ständigen Begleiter.
13./14. Sich sicher trauen ist Geben im Nehmen. Eine Frau nimmt uns mit, weil sie sich mal trauen wollte. Ein Motivationscookie von Mc. Donalds und „Seeräuberopa Fabian“ tilgen Müdigkeit und in unserem neuen Mut zeigt sich bald Glück. Nach langer Reise noch eine Stadtführung in Freiburg und eine Hommage an die gemeinsame Sprache. Frühstück an einer Sackgassenraststätte, mit Shisha und Lebensfreude, statt Mitfahrt Bananen und den guten Rat Flouridzahnpasta zu meiden, eine feste Umarmung als sich der Mut im Keller verkroch und eine glückliche Ankunft nach Mitternacht und Bier. Benommen vom Gefühl Literweise Eindrücke auf ex getrunken zu haben.
RELAIS 73.
von Laura Meltke
Relais 73. Irgendwo zwischen Besançon und Dole. Eine Tanke in der Pampa. Und dann das kleine Resto von Jean-Marc. Stephan sitzt am Tresen. Ich erkläre unsere Situation und frage nach einem kleinen Kaffee. Mit Künstlern hätten sie viel am Hut, meinen sie. Na klar, kein Problem, setzt euch raus. Wir genießen den Espresso mit viel Sonne. Wir schenken ihm lila Flieder. Jean-Marc kauft uns beim Wurstwagen, der vor dem Laden steht, ein paar Scheiben Mortadella und gibt uns noch ein Morceau de Pain dazu. Wir malen ihm einen großen Sticker mit Le Relais 73. Wir danken, er gibt uns Bisous.
WIE WIR WERDEN, WAS WIR SIND – EINE REFLEXION
von Anne-Lena Fuchs
Jeder Schritt, jeder Handgriff hatte einen Sinn. Essen, fahren, schlafen, das waren die essentielle Bedürfnisse. Wir wollten nicht nur nehmen, sondern auch von dem etwas geben, was wir haben und was wir sind. Wer wir sind. Wer sind wir? Wir haben gesehen und erlebt, wer die Menschen sind, denen wir begegnen. Kein Status, kein materieller Reichtum hätte uns ans Ziel, zu diesen Erfahrungen bringen können.
Was wollten wir erreichen? An einen Ort im französischen Jura fahren, dort die Gruppe treffen und alle Tage unserer Reise ohne Geld verbringen. Dabei stand die Gabe im Zentrum unserer Aufmerksamkeit.
Was haben wir gegeben? Gespräche, uns selbst – Offenkeit, Mut, Begeisterung, Interesse, Dankbarkeit, gemalte Bilder, Arbeitskraft, Aufmerksamkeit, Liebe.
Was haben wir bekommen? Gedanken, Vertrauen, Geschichten, Essen, Mitfahrgelegenheiten, Schlafplatz, Erfahrungen, Freude, Begeisterung, Anerkennung, Bekanntschaften, Dankbarkeit, Erleben. Die Freiheit lag darin, sich auf das Nichts einzulassen. Der einzige Anhaltspunkt war Vertrauen und die Richtung. Mit dem Vertrauen in das Unbekannte etwas Neues dazu zu bekommen, etwas Neues zu sehen und zu lernen, war eine der bedeutendsten Erfahrungen und vielleicht die größte Gabe.
Das Phänomen des Schlafens hat mich fasziniert. Ein Grundbedürfnis, das nicht durch andere und nicht durch materielle Dinge gestillt werden kann. Die Erholung kommt im Nichtstun, der Entspannung, der Ruhe, der Pause. Es gab keine Erwartungen, keine Verpflichtung und keinen Wettstreit. Der Rhythmus hieß; Erleben, Ruhen, Reflektieren, Erleben.
Wir waren wie Kinder. Der Gemeinschaft anvertraut, wir selbst, ohne Ziel, offen, interessiert und der Situation ganz hingegeben.
WENIGES WIRD VIEL GETEILT
von Sophia Roggenkamp
„Faul sein ist wunderschön, ob mit, ob ohne Geld. Wer‘s nicht glaubt, der soll zur Schule gehn‘, wir ziehen in die Welt.“ – Pippi Langstrumpf
Wir sind ins Ungewisse gestartet, kannten uns kaum doch ist der Funke noch am ersten Tag übergesprungen und jeden Tag ist die Sensibilität für die Bedürfnisse des anderen gewachsen. Während der Reise gab es immer wieder Momente die so besonders waren, dass sie festgehalten werden wollen:
„Ich möchte euch bis Meersburg fahren und bezahle euch dann die Fähre nach Konstanz. Das Gespräch tut mir gerade so gut“
Kinderlieder singend am Straßenrand. Seeräuber Opa Fabian hat uns immer wieder gute Laune geschenkt.
Bodenseeüberfahrt von Meersburg nach Konstanz. Beschwingt von der Seeluft kommen wir an und spazieren ins Zentrum.
„Auf Fahrtwind und Freiheit. Sehnsucht und Liebe. A Tschik und a Bier. Und den Vollmond als Wegweiser.“
Ein spendiertes Bier auf der Isomatte sitzend vor der Heimat in Konstanz.
„Oh, das ist ja schön! Wie früher!“ Welche Freude man bei Menschen auslösen kann, wenn man ganz profan mit Schild in der Hand am Straßenrand auf die nächste Möglichkeit weiter zu fahren wartet.
Plattenhören mit Tom in Konstanz. Eine Zeitreise in die 1980er Jahre, gute Gespräche und selbstgeschmierte Käsesemmeln für die Weiterreise.
Der Falkner aus dem Thurgau. „In der Schweiz schickt es sich nicht Fremde ins Haus zu lassen.“Doch lädt er uns trotzdem auf Kaffee und Nusskipferl in seinen Garten ein. „Mein Großvater war schon ein Falkner“
Vino rosso und Pasta in Aesch, ein gemütliches Gästezimmer und frisch gepresster Orangensaft.
Bereichernde Autofahrgespräche. Von der Raststätte am Kreuz Feuchtwangen nach Mannheim, von Heidelberg nach Meersburg, von Frasne nach Champagnole, vom Pont du Navoy nach Maisod, von Aesch nach Basel, (…). Gespräche und Begegnungen können auch bei schwieriger Verständigung, beeinträchtigt durch geringe Sprachkenntnisse sehr erfüllend sein.
Die Energie und Ausstrahlung der Kolumbianerin aus Basel.
Don Giovanni
Zeltplatzsuche nach der Oper in Basel, sowie das vorangehende Erlebnis mit dem großen Rucksack durchs Foyer zu stapfen.
Filterkaffee mit den Fliegenfischern und der frostige französische Morgen.
Von Pont du Navoy nach Maisod. Nach wenigen Minuten im Auto bietet der Fahrer an, uns bis ans Ziel zu fahren. Dank guter Ortskarte und rudimentären Französischkenntnissen, sowie Händen und Füßen landen wir tatsächlich um 11.50 Uhr vor dem Château du Maisod.
Rencontrer. Die Wiederzusammenführung der Reisefamilie.
Morgendliches Melken mit Bruno. Für mich ein Moment der Ruhe. Hier weiß ich jeden Handgriff und kann meinen Gedanken freien Lauf lassen. Es ist in Ordnung nur wenige Worte zu wechseln und still nebeneinander zu arbeiten.
Ein halbes Croissant mit dreckigen Melkhänden.
Brunos unglaubliche Gastfreundschaft, sowie seine Ruhe und Gelassenheit.
Baden im Lac artificiel.
Vorleserunde bei Regen unterm Tarp.
Die Selbstverständlichkeit des Teilens. Weniges wird viel geteilt.
anthroposophische Weledagespräche en francais zwischen Mulhouse und Freiburg.
Stadtrundfahrt in Freiburg und die Kraft der gemeinsamen Sprache.
Voller Adrenalin in der sehr christlichen WG in Freiburg ankommen. Wir werden wärmstens aufgenommen.
KAIROSGIFT – BERICHT AUS DER PRAKTISCH-KÜNSTLERISCHEN GABE FORSCHUNG
von Una Moehrke
1. EHRE
Am frühen Vormittag in Bern auf Nahrungssuche. Am dritten Tag der Reise frage ich in einem noblen italienischen Restaurant ohne Gäste – es werden gerade die Terrassenplatten neu befestigt, die Sonne scheint – ob wir womöglich Küchenreste vom Vortag bekommen könnten. Der Kellner reagiert freundlich und sagt, er wolle den Chef fragen. Der Chef kommt auf zwei Krücken, ich wiederhole meine Anfrage und er antwortet: Reste werfe ich weg; wenn ihr eine viertel Stunde Zeit habt, mache ich euch drei Pizzen. Luise zeichnet das Restaurant, wir überreichen die Zeichnung und meine Collage als Gaben. Mit drei Pizzakartons stehen wir eine halbe Stunde später an der Tankstelle und trampen weiter.
„Befinden wir uns tatsächlich im Inneren eines absolut holistischen Universums, wird alles durch Brauch, Werte und Regeln reguliert. In diesem Fall wird niemand einen anderen verraten, da jeder weiß, dass das Verhalten der anderen ebenso durch den Brauch geregelt ist und dass der Brauch befiehlt, dem Weg der Ehre zu folgen, der auch der der Generosität ist. Es ist der Weg der Gabe als Verpflichtung.“ Alain Caillé, aus „Grundzüge eines Paradigmas der Gabe“
2. VERTRAUEN und Risiko
Ganztägig on the road. In den ersten fünf Reisetagen sind wir im Wechsel zwischen couragiert und euphorisch, mutlos und erschöpft, energetisiert und hungrig. Bei allen ungewohnten Erfahrungen erleben wir die unfassbare Unterstützung unseres Kontextes: der Gruppe, von der wir nicht wissen können, wo sie und in welcher Verfassung sie ist, der Fahrer_innen, die uns danken für unsere Gesprächsgaben, unseren Reisepartner_innen, die uns ergänzen, anregen, ermutigen, die helfen, Krisen zu überstehen, die uns bereichern und schonen, wenn wir es brauchen, der Pausen, die uns Raum und Kraft geben, weiter zu machen. Mit der prozessualen Melange von Autobahn, Rast- und Tankstellen, Straße, fremden Wohnungen und Gesprächserlebnissen nähern wir uns in der Reisekontinuität eher passiv als aktiv dem Reiseziel Maisod und erleben ein Versetzt-Sein, – wir sind nicht hier, nicht dort: Aus unserer vertrauten Umgebung gerissen, fließen wir dahin in einem ort- und zeitlosen Raum, der eigenen Erweiterung,Veränderung zu.
„Man muss das Risiko eingehen, Allianzen zu bilden und zu vertrauen, dem Risiko mit Gaben eine Form geben, die ebenso sehr Symbole – Performatoren – dieses Risikos sind. Oder aber es kommt zum Krieg. Sagen wir es noch einmal anders: Man muss sich auf die Bedingungslosigkeit einlassen – weil man in einem Bündnis alles geben muss.“ Allain Caillé, aus „Anthropologie der Gabe, Grundzüge eines Paradigmas der Gabe“
3. ANERKENNUNG
Abends vor der Ladentheke. Der Impuls steigt plötzlich in mir auf, einer unbändigen Freude vergleichbar, und ich bitte spontan im türkischen Imbiss um eine Nahrungsgabe: Zum Beginn stelle ich unser Projekt der geldlosen Reise und praktischen Gabe-Forschung vor, dann trage ich einen Text von mir vor. Der Kassierer erzählt mir, dass er den ersten Tag im Imbiss arbeitet und Angst hat, etwas zu riskieren. Er bleibt zugewandt. Ich bestätige ihn darin, kein Risiko einzugehen, weil ich ihn nicht in Schwierigkeiten bringen möchte. Er sagt: „Es war schön! Ich schreibe auch Gedichte.“ Wir verlassen lächelnd, ohne eine Essensgabe, aber beschenkt von seiner Anerkennung für uns und die Dichtung den Imbiss.
„Der Weg ist weit für den ‚handelnden und erleidenden’ Menschen, bis er erkennt, was er in Wahrheit ist: ein Mensch, der bestimmte Dinge zu vollbringen ‚fähig’ ist. Mangels jener gegenseitigen, vollständig wechselseitigen Anerkennung, die jeden der Partner (...) zu einem anerkannten Wesen macht, bedarf dieses Sich-Erkennen auf jeder Stufe der Hilfe anderer.“ Paul Ricoeur, aus: „Wege der Anerkennung, Sich selbst erkennen. „Ricoeur verwendet für Selbsterkenntnis ‚reconnaissance’. So teilt sich dem Begriff etwas von dem Zögern, dem ‚Widerstand gegen die Erringung des Wahren’ mit.
4. KAIROS
Am frühen Nachmittag auf Fahrerseite und auf allen unseren Seiten. War es ein Performance-Gen, das sich plötzlich in mir regte? Ich trete an einen langsam davon fahrenden, sehr gepflegten Wagen besserer Autoklasse und bedeute dem Fahrer, noch einmal anzuhalten. Er macht einen distinguierten Eindruck, zögert, hält aber doch an und lässt die Scheibe herunter. Ich kann ihn ansprechen: Im Kontext eines Studienprojektes über das Gabe-Theorem machen wir eine Reise ohne Geld usw. Die Vokabel ‚Studienprojekt’ auf der Raststätte lässt ihn kurz innehalten. Das konkrete Kairos-Moment ist hier: die Vokabel als Vademecum. Ich erkläre weiter unser Projekt und frage, ob er uns mitnehmen würde. Er bietet uns die Mitfahrt an, wir führen ein sehr intensives Gespräch mit ihm, der als promovierter Engineering Manager arbeitet, eine christliche Haltung vertritt und früher Jugendfreizeiten geleitet hat. Die Gabe ist für ihn eine Fähigkeit, Sprache / Fremdsprache zu haben (vgl. Heidegger: Wir sind sprachbegabt und bemerken es, wenn es uns die Sprache verschlägt.)
„Sprechen bedeutet, etwas mit Worten zu tun.“ John Langshaw Austin (1911 –1960) was a British Philosopher of language and leading proponent of ordinary language philosophy, perhaps best known for developing the theory of speech acts.
Kairos ist ein religiös-philosophischer Begriff für den günstigen Zeitpunkt einer Entscheidung, dessen ungenutztes Verstreichen nachteilig sein kann. In der griechischen Mythologie wurde der günstige Zeitpunkt als Gottheit personifiziert. Im Altgriechischen wird der Terminus Kairos als der rechte Zeitpunkt erfasst und steht im Gegensatz zum langen Zeitabschnitt Chronos und zum Tag. In biblischen Texten wird das Wort Kairos für einen von Gott gegebenen Zeitpunkt, eine besondere Chance und Gelegenheit, den Auftrag zu erfüllen, verwendet.
Immanuel Wallerstein nimmt diesen Begriff in seinem Buch „Unthinking Social Science“ wieder auf, um eine postmoderne Theorie gesellschaftlichen Wandels zu formulieren. Für Giorgio Agamben ist der Kairos die Zeit der messianischen Erfüllung/Außerkraftsetzung des Gesetzes, in der der chronos „gestaucht“ wiederholt wird. In der Philosophie ist es der entscheidende Augenblick selbst, in der Religion steht Kairos auch für die Entscheidung zwischen Glaube und Unglaube.
5. GEGEBENHEIT
Altes Testament kurz vorm Flughafen Genf. Unsere Fahrerin ist nervös. Sie weiß nicht, ob sie auf dem richtigen Weg zum Flughafen ist: Die sympathische, temperamentvolle Portugiesin, die in der Schweiz arbeitet, um ihr Leben zu Hause finanzieren zu können, ist unsicher. Wir studieren den Straßenatlas und können sie beruhigen: Die Autobahn ist richtig. Auf meine Frage, was für sie eine Gabe ist, antwortet sie strahlend: „That’s I’m alive!“. Beim Aussteigen bricht sie von ihrem Weißbrot die Hälfte für uns ab und gibt uns etwas von ihrer Schokolade.
„Es ist nicht selbstverständlich, dass es das gibt, was es gibt. Diese Gegebenheit, die wir in unserem Leben gar nicht genügend wahrnehmen, sondern so leben, als wäre es das Selbstverständlichste, ist das größte Wunder.“ Gerhard Stamer, aus „Im Modus der Gabe“
„Umsonst habt ihr es empfangen, umsonst gebt es.“ Römer 3.24
„Ein neues Gebot gebe ich euch, dass ihr euch untereinander liebt, wie ich euch geliebt habe, damit auch ihr euch untereinander lieb habt.“
1. Korinther12.7
6. FREIHEIT und MORAL
Und nicht: freedom ist just annother word for nothing left to lose...
Mir ist der Lastwagenfahrer nicht geheuer, aber Karl-Konrad hat ihn gefragt und hat auch Lust, einmal mit dem LKW zu fahren. Er sieht sehr ungepflegt aus und macht auf mich keinen vertrauenswürdigen Eindruck. Ich bin mir nicht sicher, ob ich ihm vielleicht ungerecht werde. Er erklärt uns, dass zwei in der Koje bleiben müssen und einer vorne sitzen darf. Wiederholt sagt er, dass er jetzt losfahren will. Er fährt aber nicht los und fragt Karl-Konrad mehrfach, ob wir nun mitfahren. Ich gehe noch einmal zum LKW, wieder das gleiche Gefühl: Nicht einsteigen! Karl-Konrad und Luise lassen sich von mir überzeugen, wir steigen nicht ein.
„Ich bin mir gewiß: In meiner Freiheit bin ich nicht durch mich selbst, sondern werde mir in mir geschenkt, denn ich kann mir ausbleiben und mein Freisein nicht erzwingen. Die höchste Freiheit weiß sich in der Freiheit von der Welt zugleich als tiefste Gebundenheit an Transzendenz. (...) Die Freiheit, das Wichtigste, das uns Menschen gegeben ist, die alle Menschen mit ihrem Erkenntnisvermögen empfangen haben, ist gerade das, wodurch sie in eminenten Sinne zum Geben befähigt sind. Die gesamte Moralphilosophie, die Praktische Vernunft Kants kann als Begründung einer Sphäre angesehen werden, in der sich eine unökonomische Gabenkonzeption in radikaler Weise verwirklicht. Der Kategorische Imparativ drückt es so aus: “Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“ Ist die hier zum Ausdruck kommende Bezogenheit des individuellen Willens auf die Gemeinschaft nicht die höchste Form der Gabe? Die Quintessenz dieses Gedankens lautet: Moral ist Gabe. Wenn es keine Gabe gibt, gibt es keine Moral.“ Gerhard Stamer, aus „Im Modus der Gabe“
7. GEFANGENENDILEMMA
Zoll als Sollbruchstelle. Mäßig schönes Rasenstück an der Raststätte, unerwartete Störung beim Restepicknick. Luise lädt noch einen Tramper mit dessen Fahrer ein, obwohl das Essen kaum für uns reicht. Aus der Einladung entwickelt sich ein sehr schönes Gespräch mit dem Fahrer, einem Biobauern mit Hof in Lüchow-Dannenberg. Als ich die grünen Blätter von den geschenkten, zwei Tagen alten Radieschen Bünden vom Markt vorm Freiburger Münster abreißen will, erklärt mir der junge Biobauer, dass durch sie die Feuchtigkeit in den Radieschen gehalten wird und Abreißen sie austrocken würde. Plötzlich hält ein Zollauto und unterbricht die schöne Stimmung. Wir werden gebeten, das Gepäck zu zeigen. Ich sage zum Zollbeamten: „Wie schade, dass Sie jetzt unserer schöne Atmosphäre damit zerstören, dass Sie mich glauben lassen, dass ich Sie verdächtigen muss, uns zu verdächtigen, etwas Unerlaubtes zu schmuggeln.“ Er stutzt und geht ansatzweise auf meine Gesprächswaffe ein. In Folge wird er freundlicher, schaut nur sehr oberflächlich in den Rucksack von Karl-Konrad und verschont Luise und mich. Er verabschiedet sich höflich, der Störfaktor war nur eine leichte Trübung.
„Als einer von zwei Gefangenen, dem ein machiavellistischer Richter die Kommunikation mit seinem Mitgefangenen verboten hat, würde ich meinen Mitgefangenen denunzieren; denn ich würde zu vier Jahren Gefängnis verurteilt, wenn er mich auch denunziert; ich käme frei, wenn er mich nicht denunziert. (Dieselbe Kalkulation gilt auch für ihn) Wenn ich ihn nicht denunziere, aber er denunziert mich, erhalte ich acht Jahre. Wenn wir einander nicht denunzieren, werden wir zu einem Jahr verurteilt. In dieser klassischen Formulierung des bekannten ‚Gefangenendilemmas’ einer hauptsächlich logischen Parabel in allen Debatten über vernünftiges Handeln, die von Alber W. Tucker stammt, erscheint das Problem des Vertrauens in all seiner Einfachheit. Offensichtlich ist die beste Lösung die ‚moralistische’. Sie ist eine Treue, des Vertrauens und der Ablehnung des Verrats. Aber sie setzt Vertrauen in den Anderen voraus. Und sie setzt Vertrauen in der Annahme voraus, dass auch der andere vertrauen haben wird und so weiter. Sobald ein Zweifel auftaucht, sobald ich beginne, den anderen zu verdächtigen, mich seinerseits einseitig zu verraten (und auch das wäre ‚rational’, insofern mein Mittäter, wenn er mich seinerseits verrät, sicher sein kann, keine acht Jahre Gefängnis zu bekommen; und er kann darauf hoffen, sofort befreit zu werden, wenn ich ihn meinerseits nicht verrate), werde ich unwiderstehlich dazu getrieben, selbst ‚zu verraten’ und das Spiel der Denunziation zu spielen. Die strategische Rationalität führt also unsere beiden Strategen dazu, sich gegenseitig zu denunzieren, damit sie nicht acht Jahre erhalten, sondern vier Jahre, selbst wenn sie nur ein Jahr Gefängnis hätten bekommen können.“ Alain Caillé, aus: „Das Gefangenendilemma – Rationalität, Gabe und positive wechselseitige Verschuldung“
8. DIE GABE GIBT SICH SELBST
Auf der Eselsweide, in der Sonne. Die ganze Reisegruppe sitzt am ersten Klausurtag auf der Weide im Seminarversuch: Handelt es sich um Camping, Urlaub, Zufall? Das Bild trügt und ist doch wahr! Ich schlage vor, zu Beginn zehn Minuten zu überlegen, wie die einzelnen Reiseberichte erzählbar werden und sie den einzelnen Gabe-Kategorien oder selbstgewählten Begriffen zuzuordnen, erste Projektskizzen zu entwerfen und bei alldem größte Entspannung zu üben – auf dem Rücken liegend, in den blauen Himmel schauend ... Das Sprechen beginnt: Die Gesprächsatmosphäre im natürlich kultivierten Seminarraum der Weide fühlt sich für mich wie Musik an oder wie ein sanfter Lufthauch, der alle streift. Kein Stress weit und breit. Zwischendurch machen sich die Esel bemerkbar, treten auf meine Sonnenbrille, simulieren Lernbereitschaft oder doch Interesse, necken uns mit ihren Berührungen, stören und belustigen uns. Die Erzählungen haben eine besondere Qualität: Sie sind vielfältig, teilweise literaturverdächtig, alle intensiv und bereichernd, überlegt und vorstrukturiert. Es ist die helle Freude, sonnenbrandnah und scheinbar keine Studienarbeit. Meine Permanentzweifelbegabung legt sich am siebten Tag. Das Projekt der praktisch-künstlerischen Gabe-Forschung ist kein Leichtsinn, sondern Ereignis. Es schafft Vertrauen und Selbstbewusstsein. Ich kann die Angst ablegen, mich zu weit vorgewagt zu haben. Aus dem Rahmen des Gabe-Denkens, sprich Exkursion, entstehen neue Gaben, die Quelle quillt.
„Die performative Kraft der Gabe erzeugt sich in und durch sich selbst. Indem die Gabe gegeben wird, bringt sie etwas hervor, dass es außerhalb von ihr und ohne sie nicht geben würde: einen seitens des Gebers nicht erzwingbaren Zwang zur Erwiderung.“ Iris Därmann, aus „Theorien der Gabe, Die Kraft der Sache selbst“
9. GENERÖSE GENERATIVITÄT
Campen, Essen und Trinken bei Bruno. Der Bauer Bruno gibt uns auf seiner Eselsweide Camp-Platz und Feuerstätte, in seiner Küche Tafel und Essen. Er verbreitet eine ‚generative Generösität’. Aus seiner und unserer Spontaneität erwächst zirkuläre Kreativität – er vertraut uns, den Kairosabgesandten und zufällig Erscheinenden, in Stall und Haus (Sophia und Laura helfen ihm melken) und er feiert mit uns zum Abschied unseren Besuch. Er sagt sogar: „Ihr könnt noch bleiben“. Im Bild unseres ‚Abendmahls’ in seiner Küche lässt die Gabe erscheinen, was sie geboren hat: drei Tage Klausur mit Landarbeit, Seminar auf der Weide unter freiem Himmel und reziproker, ‚gastgebender’ Geborgenheit – kollektive Paradiespraxis vor der Rückreise, Initiation im sozialen, dinglichen und immateriellen Transfer.
„Wenn wir einer strukturalistischen Logik binärer Strukturen folgten, würden wir Ansätze, die die Gabe mit Hilfe eines Begriffs des Rituellen analysierten, von solchen unterscheiden, die die Gabe nicht von ihrer verpflichtenden, sondern von ihrer freiwilligen Dimension aus betrachten, die die Spontaneität und Kreativität impliziert. Die Generosität steht hier Seite an Seite mit der Generativität. Alain Caillé, aus „Anthropologie der Gabe“
10. PARADOXE HANDLUNGSTHEORIE
Oder: Modell der Reise? Aspekte des Utilitarismus und Holismus. „Das einzige Mittel, aus der Sackgasse des Gefangenendilemmas und des methodologischen Individualismus herauszukommen, das einzige Mittel, Vertrauen zu schaffen und ein soziales Verhältnis herzustellen, liegt im Risiko der Gabe. (...)
Dem Gefangenendilemma von Kooperation und Nicht-Kooperation lässt sich, wie schon Mauss durch seine Formulierung nahelegt, nur in einer paradoxen Form begegnen. Das Risiko der Gabe ist paradoxal, da nur die demonstrative Uneigennützigkeit und das Bedingungslose die Möglichkeit eröffnen, Bündnisse zu schließen, von denen alle profitieren werden, und damit schließlich auch derjenige, der die uneigennützige Initiative ergriffen hat. (...) Der Holismus kennt nur die traditionelle Handlung und der Individualismus nur die zweckrationale Handlung.“
„Die Gabe ist obligatorisch, weil nicht einfach irgendeiner Person irgendetwas, irgendwann und irgendwie gegeben wird und weil die Momente und Formen der Gabe sozial instituiert werden, wie dies der Holismus richtig sieht. Aber sollte es sich um nur um ein bloß mechanisches Ritual, um einen vorgeschriebenen Ausdruck von verpflichtenden Gefühlen der Generosität handeln, dann wäre man in einer argumentativen Sackgasse, wie die Gabe- selbst wenn sie sozial zwingend wäre- tatsächlich nur in einem Kontext von Spontaneität ihren Sinn gewinnt. Es soll gegeben und erwidert werden (...) Mauss läßt kaum einen daran, das sie nicht der privilegierte Antrieb der Sozietät wäre, der sie ist, wenn sie nicht zugleich und paradoxerweise obligatorisch und frei, eigennützig und uneigennützig wäre.“ Alain Caillé, aus „Die Gabe als Risiko und eine Lösung der Aporien des methodologischen Holismus und Individualismus“
Fotos und Texte © Teilnehmende, 2017
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