Ohne Geländer_ wie wir werden, was wir sind
Unser Ver-fahren ist eine Reise ohne Geld und feste Organisation. Wir folgen unseren Fähigkeiten zur Improvisation, der Weg ist das Ziel.
Ohne Geländer_ wie wir werden, was wir sind
Unser Ver-fahren ist eine Reise ohne Geld und feste Organisation. Wir folgen unseren Fähigkeiten zur Improvisation, der Weg ist das Ziel. Wir finden heraus, wie wir uns mit künstlerischer Intelligenz und künstlerischem Handeln nicht nur Schlafplatz und Verpflegung, sondern auch dialogische und ungeplante Herausforderungen erarbeiten im realen Reise-Prozess der Kunst, der kreativ und kommunikativ passiert.
Nach dem Reisestart - der Kunst des Improvisierens und Erkennens von Anerkennungspraxis unterwegs - soll in der Seminarfolge des Projekts nach seiner Modellhaftigkeit zum Erwerb von Selbstvertrauen in der prozessualen Kunstpraxis gefragt werden, die aus dem Atelier in die Lebenswelt führt und die Struktur der Gabe und das Vermögen des Zufalls / Kairos untersucht.
Ein Seminar im Sommersemester 2017 / im Anschluss an die Reise "Unterwegs ins Feld der Gabe: wie wir werden, was wir sind im Austauschverfahren. Ein offenes Reiseprojekt"(4.-14-April 2017 Halle (Saale) - Maisod)
mit: Anne-Lena Fuchs, Marie Gülzow, Timm Höller, Hannah Kohn, Laura Meltke, Freya Neumann, Marie Newid, Laura Neynaber, Sophia Roggenkamp, Hannah Schwarz-Wissel und Karl-Konrad Wetzel
Lehrende: Prof. Una Moehrke, Luise von Rohden (Assistenz)
REISEALBUM KOPFKINO
Anne-Lena Fuchs
Eine Reiseerzählung mal anders. Kein Fotoalbum, sondern eine Bilderfolge im Kopf-live-Stream, ausgelöst durch eine Audiocollage im Hörkasten.
Im Team zu zweit entwickelt man auf Reisen eine hohe Sensibilität für das Geben und Nehmen zwischen einander und zu den Menschen, denen man unterwegs begegnet. Dabei wird das gegenseitige Anerkennen von Bedürfnissen und das Zugestehen von Pausen zu zentralen Grundbedingungen der Komplizenschaft. Die Pause als Raum des Innehaltens, der Reflexion, des Rückzugs wird zur bedingungslosen Gabe, zur Kraft- und Erholungsquelle.
In meiner Arbeit werden originale Tonaufzeichnungen von unterwegs zwischen Halle und Maisod gemischt mit nacherzählten, unfotografierten Reiseszenen und im Sinne der Bricolage zu einer Audiocollage aus Dialogen, Situationen, Kulissen und Erinnerungen komponiert.
Die Pause gilt dabei nicht nur als gestalterisches Mittel, sondern eröffnet dem Hörenden auch den Raum für die eigene Assoziation und Vorstellung. Vor dem Hintergrund der Reiseerzählung wird sie zum Rhythmus zwischen Erleben, Reflektieren, Ruhen.
Die passenden Bilder entstehen vor dem inneren Auge des Hörenden, dessen Kopf in einem „whitecube“ im Reiseformat steckt, sodass die Außenwelt vom Kopfkino ganz abgeschirmt bleibt.
DAS GLÜCK DER GABE
Marie Gülzow
Indem wir geben, geben wir ein Stück von uns selbst. Aber die Gabe ist nicht verloren, denn im Annehmen der Gabe durch das Gegenüber erkennen wir unser Selbst. Auf diese Weise wird die Gabe zum Spiegel und somit wiederum zur Gabe für den Gebenden. Das Glück der Gabe liegt in der Reflexivität. Indem wir geben, wird uns auch etwas gegeben und wir können uns selbst erkennen und annehmen. Als Projekt entwickle ich eine Inszenierung, die zugleich Nähe und Distanz aufzeigt, so wie im Moment des Gebens Ferne und Nähe aufeinander treffen. Wir entfernen uns von uns selbst, handeln uneigennützig, erkennen uns im Gegenüber und kommen uns selbst näher. Die Gabe entsteht schließlich in der Begegnung, denn nur mit der Hilfe des Anderen können wir uns erkennen. In Form einer Situation und Handlungsanweisung soll diese Erfahrung des Glücks, die immer zwischen uns Menschen liegt, zwischen Nähe und Ferne erfahren werden.
Eine Erfahrung des Glücks oder
eine glückliche Erfahrung?
CONTINUER À RACONTER /WEITERERZÄHLEN
Timm Höller, Laura Meltke
Das, was uns die Menschen neben einer Mitfahrt, einer Mahlzeit oder einem Schlafplatz während unserer Reise schenkten, das, was wertvoll ist, sind die Geschichten, welche sie mit uns teilten. Eine Geschichte ist lebendig, wenn sie erzählt wird. Wir möchten die Geschichten, die die Leute mit uns teilten, weitererzählen. Das Mitnehmen und Weitergeben ist sowohl das grundlegende Prinzip der Reise, als auch der Erzählung. Die Möglichkeit der Weitergabe wollen wir in der Form unserer künstlerischen Umsetzung beibehalten. Dazu soll ein Booklet mit Hörbuch entstehen, in Größe einer CD. Zum Mitnehmen, Einlegen und Zuhören. Zuhause oder Unterwegs. Für mich. Oder ein_e
Freund_in. Oder eine_n Unbekannte_n. Zum Behalten. Oder Verschenken. Wir haben dafür während unserer Reise die Begegnungen gesammelt – die Geschichten aufgeschrieben, Portraits geknipst, unsere Trampschilder aufbewahrt. Genauso unverkopft, wie unsere Tour war, soll die Umsetzung in ihrer Form frei, ungezwungen und verspielt sein. Booklet und Hörbuch laden ein, zuzuhören, zu schmunzeln, nachzudenken. Und vor allem machen sie Lust, sich selbst auf die Reise zu begeben und ohne Angst der Welt zu begegnen.
DAS KOMPLIMENT
Hannah Kohn
Ich stehe bei Edeka an der Kasse. Die Kassiererin schiebt die Einkaufsware über den Scanner, es tutet im Rhythmus. Sie trägt einen extravaganten Lippenstift, er ist pink und glitzert. Ihre Kleidung ist eher unauffällig, ihre Lippen sind mutig und wild. Ich finde ihren Lippenstift cool und beschließe, ihr ein Kompliment dafür zu machen. Als ich an der Reihe bin merke ich, dass ich nervös bin. Ich habe mich so fest zu dem Kompliment entschlossen, dass es mir nicht mehr so spontan über die Lippen kommt. Ich nehme meinen Mut zusammen und sage: „Ich finde Ihren Lippenstift wirklich super!“ Wir lachen uns an, und ich gehe ganz beschwingt aus dem Laden.
Ein Kompliment ist eine Würdigung, es zeugt von Aufmerksamkeit und Respekt. In diesem Fall erwidert die Kassiererin das Kompliment, meine Gabe mit einem offenen Lachen und gibt mir durch diese Geste Anerkennung und Achtung zurück. Dies stärkt wiederum mein Selbstbewusstsein.
Welchen Zyklus kann eine gute oder eine schlechte Gabe in Gang bringen? Eine Gabe muss die Welt nicht verändern, aber vielleicht ist sie ein Auslöser für eine Kette von Reaktionen, die ich selbst gar nicht mehr miterlebe
DIE GABE SPRICHT
Freya Neumann
Gaben animieren über kurze oder lange Zeit das unsichtbare, geistige Verhältnis von Geber und Nehmer und setzen Verbindungen in Gang.
Dies soll in meinem Projekt untersucht werden. Beobachtungsgegenstand wird zunächst die Begegnung zwischen mir und unbekannten Anderen im Straßenraum sein. Die Aktion beginnt mit einem mir auf den Rücken gebundenen runden Tisch, mit dem ich mich durch Halle bewege. An Knotenpunkten, die zugleich Rast- und Passage-Räume sind, werde ich meinen Stehtisch aufstellen und die Passanten zu einem Glas Wasser und zu einer Pause einladen. Während des Getränks sollen Gespräche entstehen, die sich um drei Fragen drehen: „Wann haben Sie das letzte Mal gegeben oder geschenkt?“, „Wann haben Sie das letzte Mal etwas bekommen?“, „Wann haben Sie sich einfach etwas genommen?“.
Die künstlerische Untersuchung soll einen Einblick in das Verständnis der Gabe und ihre Praxis liefern. Dabei ist meine Gabe, die Pause hier eher als ein Distanz-Nehmen vom Alltag zu verstehen, denn das Gespräch, das ich suche, ist in gewisser Weise Arbeit und fordert Konzentration und Neugier. Diese Gespräche werden von mir schriftlich aufgezeichnet und später in einen Film eingearbeitet.
REDUKTION
Marie Newid
Eine Auswahl treffen. Der Schritt von einer größeren Menge auf eine kleinere zu kommen. Reduzieren – Oxidieren. Im chemischen Prozess geht es bei der Reduktion nicht um eine Verringerung, sondern um eine Umverteilung. Die Unmittelbarkeit der Sache hebt sich auf, wird in einen anderen Sinnzusammenhang gehoben und bleibt bewahrt. So verhält es sich auch mit der Gabe.
Eine visuelle Reduktion stellt eine Konzentration dar. Sie lässt zu, mit einer zurückgenommenen, schlichten Form eine gedankliche Komplexität zu verbinden. Wenn man bereit ist, sich von dem Gewohnten zu lösen und genau zu beobachten, entstehen daraus Freiräume. Die Reduktion ist ein Kondensat auf das Wesentliche. Was bleibt? Was setzt sich ab? Reduziere ich meinen Aktionsradius auf wenige Meter, entsteht dadurch eine verdichtete Erfahrung des Umraums, da ich mich in ständiger Relation zu ihm befinde. Wenn ich die äußerlichen Reize minimiere und mein Umfeld mir keine Möglichkeit der Zerstreuung bietet, verweist es mich auf mich selbst. In der Versuchsanordnung, eine Woche dem Hermes Atelier ausgesetzt zu sein, erfahre ich mich verändert. Anknüpfend an die Überlegung wie wir werden, was wir sind, bin ich dabei dem Ort mit all seinen Eigenheiten ausgesetzt, ohne einen vorgefertigten Handlungsablauf zu verfolgen. Es scheint eine Reduktion der Reichweite meiner Gedanken stattzufinden. Eine Einschränkung meiner Handlungsfähigkeit. Ich schlafe wachend und wache schlafend. Die visuelle Aufmerksamkeit verblasst, die akustische Präsenz der Etage ergreift mich.
Das Gebäude schafft Geborgenheit und schließt mich gleichzeitig ein. Und aus von einer Alternative. Doch wir bleiben bis zum Ende. Es entstehen Verhaltensmuster und Rituale analog zur Reise. Jeden Abend machen wir uns mit einem Stoffbeutel auf die Suche nach Lebensmitteln. Sind Zeuginnen des Geschehens auf der Etage. Bilden eine Komplizenschaft. Ich finde heraus, dass die räumliche Reduktion sowie die Verringerung externer Reize eine Zurückführung auf das Wesentliche bewirkt. Was kann ich noch geben? Im Gegenmodell zur Reise sitze ich fest. Darin liegt meine Gabe: permanente Anwesenheit.
HinGABE ist ZWECKlos
Laura Neynaber
GEBEN.
HerGEBEN. HinGEBEN.
Sich hinGEBEN.
Sich in etwas hineinGEBEN.
Etwas in sich aufNEHMEN.
Selbst SEIN im Anderen.
Im Nicht-ICH.
Grenzen aufheben.
Wenn ich bin, bin ich nicht nur ich. Ich bin auch die Summe der Wünsche und Ängste, der Vorstellungen und Ansprüche, der Bedürfnisse und Triebe, wie auch der Schwächen und Selbsttäuschungen derer, die mich umgeben. Die, die sich mir hingeben, mich in sich aufnehmen, erfassen mich auf all jene Arten, die ich sein kann und fügen mich zu jemandem zusammen, der ich bin. Sie geben mir mich selbst, indem sie mir die Möglichkeit geben, mich zu spiegeln. Ich kann mich von ihnen als „Ich“ trennen, mich aber zeitgleich mit ihnen verbinden.
Wenn ich es zulasse, mich einlasse, werde ich mehr als nur ich selbst. Dann bin ich auch im Anderen, verschmelze, öffne mich, setze mich aus, auf die Gefahr hin mich zu verlieren; „Mich“ als gegebene Form, als Gebilde, das ich erfassen und halten will; weil von mir erwartet wird, dass ich weiß, wer ich bin. Auch das Wissen darum, wie verletzlich dies Gebilde ist, das mir eine Idee meiner Selbst gibt, hemmt mich, lässt mich zögern. Die Frage ist aber, wieviel mir entgeht, wenn ich mich begrenze, mich in Worte fasse und definiere, um daran festzuhalten, wenn ich doch jedes Mal mehr werde, wenn ich jemandem begegne und mehr bin, als ich selbst weiß.
Der Projekt fragt nach der Gabe der Hingabe. In der Zuwendung und im Gespräch sammle ich Worte und Erfahrungen, Formen und Bilder, die mir Zugang zu einem Menschen verschaffen, Verbindungsstücken gleich. Als Sammlung werde ich ihnen eine Form geben. Was sich im Weiteren daraus ergibt, wird sich zeigen, wenn es soweit ist.
BINDE MIR DIE SCHUHE ! DIE HANDLUNG ALS ZEICHEN UND DAS ZEICHEN ALS SYMBOL
Hannah Schwarz-Wissel
Ich lerne M. kennen, wir verbringen eine Stunde miteinander. In dieser Zeit wechseln Gesprochenes, Gefragtes und Aufmerksamkeiten den Besitzenden. Florierend. Gebend. Nehmend. Erwidernd.
Meine Schnürsenkel sind offen. Er bindet sie zu. Schnell und sorgfältig. Bevor ich darauf reagieren kann, hat er sich zu meinen Füßen gebeugt. Grenzüberschreitend? Hierarchien überwindend? Aufgeladen? Überraschend.
Knien – als Geste und Symbol – kann vieles sein: Unterwerfung, Demut, Flehen, Bitten, Ehrerbietung, ausgeliefert sein und Schutzmechanismus. Aber nicht jedes Knien ist mit einer symbolischen Bedeutung aufgeladen: Fliesen verlegen, Unkraut jäten, Schuhe binden?
Ein Archiv rund um das Knien, eine Sammlung aus Bildern und Situationen stellt die unterschiedlichsten Bedeutungen nebeneinander und fragt nach diversen Interpretationen und Kombinationsmöglichkeiten. Verschiedene Bilder können zueinandere in Bezug gesetzt werden, wodurch sich neue Narrationen, Ebenen und Aussagen ergeben.
BAUSTEINSPIEL
Karl-Konrad Wetzel
Am dritten Tag unserer Reise kamen wir kurz vor 22 Uhr in Bern an. Wir suchten einen Platz zum Schlafen und ein Abendessen. Wir fanden eine Unterkunft und auf dem Weg dahin eine Nudelmanufaktur kurz nach Ladenschluss. Auf unsere Frage hin schenkte uns der Inhaber des Ladens ein Kilogramm Tortellini, Tomatensoße, Parmesan und einen halben Liter Wein. Er nahm unsere kleinen Tauschgeschenke an und ließ uns ohne weitere Erwartung in den Abend ziehen.
An diesem Punkt setzte bei mir ein Erkenntnisprozess an. Nach einer Nacht und einem Frühstück, geschenkt von einem Fleischer und einem Pizzariainhaber, standen wir wieder an der Straße und ich dachte an den Vorgang des letzten Abends. Ich fühlte zurück, und fühlte mich befähigt zu geben.
Mir wurde klar, dass aus einer Gabe die Gabe zum Geben entspringt. Ich kann geben, weil mir gegeben wurde. Wenn ich jetzt, fähig zu Geben, gebe, kann wieder die Gabe zu Geben entstehen. Es wird weitergegeben. So entsteht eine Kette.
Auf der Reise wurde über verschiedene Theorien und Begriffe der Gabe gesprochen. Dem will ich weiter nachgehen und ausprobieren, was passiert, wenn Worte in einem freien Spiel zu Wortkomplexen oder spielerischen Systemen verbunden werden.
Ich entwickle ein Bausteinspiel, auf dessen verschieden geformten Bausteinen Begriffe stehen. Die Begriffe werden in einer Umfrage zu der Frage gesammelt: Welche Worte sollten in einem Text zur Erkläung der Welt unbedingt enthalten sein?. Die Form der Bausteine wird abgeleitet von Skizzen, die assoziativ zu den Begriffen entstehen. Spielerisch können so Systeme gebaut, aus verschiedenen Perspektiven angeschaut, diskutiert und umgebaut werden.
Fotos und Texte © die Seminarteilnehmenden, 2017
mehr zur Reise und zum Seminar unter kairosgift.blogspot.de
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